Mantelerlass: verantwortungslose Natur­zerstörung oder wichtiger Schritt fürs Klima?

Position von BirdLife Schweiz – August 2023

Der Mantelerlass ist ein umfangreiches Gesetzespaket, das die Produktion Erneuerbarer Energien fördern und die Energieeffizienz verbessern soll. Mit diesen beiden Zielen stimmt BirdLife Schweiz zu 100 % überein. Aber in ihrer jetzigen Form würde die Gesetzesvorlage die Biodiversitätskrise befeuern.

In der Schweiz steht es um die Biodiversität besonders schlecht: Rund die Hälfte aller Lebensraumtypen sind gemäss Roter Liste gefährdet; die Roten Listen der gefährdeten Arten sind länger als in unseren Nachbarländern. Die Biodiversitätskrise befeuert die Klimakrise – und umgekehrt. Entwässerte und beeinträchtigte Ökosysteme wie z. B. Moore und Wälder setzen CO2 frei. Intakte, artenreiche Ökosysteme hingegen binden CO2. Die Architekten des Pariser Klimaabkommens haben deutlich darauf hingewiesen, dass die Klimaziele nicht erreicht werden, ohne die Biodiversität und die Ökosysteme besser zu schützen.

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BirdLife Schweiz arbeitete 2022 in einem Projekt der Umweltallianz mit, das aufzeigte, wie die Energiewende biodiversitätsverträglich umgesetzt werden kann (siehe unter energiewende2035.umweltallianz.ch). Zentral ist bei allen neuen Projekten eine sorgfältige Planung, welche die Naturwerte und v. a. gefährdete Ökosysteme und Arten frühzeitig berücksichtigt. Die Klima- und die Biodiversitätskrise können also gemeinsam gelöst werden – sie können sogar nur gemeinsam gelöst werden.

Es wäre deshalb völlig verantwortungslos, wenn das Parlament nun im Mantel­erlass den Schutz der Biodiversität abschwächen oder die sorgfältige Planung von neuen Anlagen vernachlässigen würde. Aber beides ist mit der derzeitigen Vorlage der Fall. Restwasserbestimmungen könnten sistiert werden, Restwasserstrecken sogar in Auen von nationaler Bedeutung zu liegen kommen. Eine Aue ohne Wasser ist jedoch keine intakte Aue mehr. Der vermutlich schlimmste Punkt bezüglich Biodiversität ist ein «grundsätzlicher» Vorrang für Anlagen der Erneuerbaren Energien vor allen anderen nationalen Interessen in sogenannten Eignungsgebieten. Die Eignungsgebiete werden im Richtplan festgesetzt.

Die Berücksichtigung der Biodiversität ist schon heute in der Richtplanung völlig ungenügend. Systematisch erhobene Daten fehlen meist komplett. Gezielte Datenerhebungen werden auf die Stufe der Nutzungsplanung oder der Baubewilligung verschoben. Das Bundesgericht hat die ungenügende Berücksichtigung der Biodiversität in der Richtplanung mehrfach bestätigt, indem es explizit Richtpläne kritisierte oder Windparkprojekte trotz Eintrag im Richtplan redimensionieren oder ablehnen musste, weil sie nicht gesetzeskonform waren. In Zukunft könnte das Bundesgericht jedoch nicht mehr korrigieren. Vor dem Eintrag im Richtplan fänden nur ungenügende Abklärungen statt, gegen den Richtplan selbst besteht keine Beschwerdemöglichkeit. Und nach dem Eintrag würden entsprechende Erkenntnisse keine Rolle mehr spielen, weil die Anlagen dann grundsätzlich anderen nationalen Interessen vorgingen. Die Katze beisst sich in den Schwanz.

Dieses Problem beträfe nicht nur einige wenige Gebiete, sondern würde in der Schweiz grossflächig wirksam. Als Beispiele können die Kantone Luzern, Graubünden und Zürich dienen. Obwohl in diesen drei Kantonen unterdurchschnittliche Windbedingungen herrschen, wurden bereits 22, 39 bzw. 45 Eignungsgebiete zumindest provisorisch in den Richtplan oder zugehörige Grundlagenberichte eingetragen. Mit dem Mantelerlass wird der Druck, weitere Eignungsgebiete für Wind- und zusätzlich für Sonnenenergie auszuscheiden, massiv zunehmen. Das Parlament muss dieses rechtsstaatlich und biodiversitätspolitisch inakzeptable Konstrukt unbedingt korrigieren!