Politik: Retterin oder Totengräberin der Biodiversität?

Position von BirdLife Schweiz – Februar 2023

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Alle Jahre wieder... veröffentlicht das World Economic Forum (WEF) seinen Bericht über die globalen Risiken für die Wirtschaft, genannt «Global Risks Report». Und alle Jahre wieder taucht die Biodiversitätskrise unter den grössten globalen Risiken auf. Im Report 2023 belegt der Biodiversitätsverlust im Zeithorizont von 10 Jahren den vierten Rang, nach drei Risiken, die allesamt der Klimakrise zugehören. Nicht nur das WEF, auch zahlreiche andere Wirtschafts-Akteure haben die Bedeutung der Biodiversität erkannt. Die SwissRe zum Beispiel hat 2020 aus Sicht eines Rückversicherers den finanziellen Wert von Biodiversität und Ökosystemleistungen sowie die Risiken des Biodiversitätsverlusts in einem Bericht beleuchtet. Alle grossen Beratungsunternehmen der Wirtschaft haben Studien zum Biodiversitätsverlust erarbeiten lassen. Unter dem Namen «Business for Nature» fordern über 1000 Firmen inkl. grossen Konzernen die Regierungen dazu auf, den Biodiversitätsverlust zu stoppen und umzukehren. Dass sich der Aufruf nicht an Produzent­Innen, Firmen oder KonsumentInnen richtet, sondern vorab an die Regierungen, macht aus volkswirtschaftlicher Sicht Sinn: Die Biodiversität ist ein Allgemeingut wie Sicherheit oder Klima; staatliches Handeln ist deshalb notwendig.

Alle Jahre wieder... veröffentlichen wissenschaftliche Institutionen noch negativere Bilanzen zum Zustand der Biodiversität weltweit bzw. in der Schweiz. Offensichtlich sind also die Warnungen der Wirtschaft noch nicht in der Politik angekommen. In der Schweiz lässt sich das nur allzu gut beobachten. Der Zustand der Biodiversität ist hierzulande noch schlechter als in den meisten anderen Ländern, insbesondere auch den umliegenden europäischen Staaten. Die Roten Listen sind in der Schweiz prozentual länger als in anderen Industrieländern, selbst im Vergleich zu gleich dicht oder noch dichter besiedelten Ländern. Die Schweiz hat einen geringeren Anteil an Schutzgebieten – und selbst in diesem geringen Anteil von Schutzgebieten ist die Qualität ungenügend: Bei 74 Prozent der Biotope von nationaler Bedeutung sind Schutz und Unterhalt gemäss dem Bund noch immer ungenügend umgesetzt. Bereits 2012 stellte der Bundesrat fest, dass der Schutz der Jagdbann­gebiete sowie der Wasser- und Zugvogelreservate verbessert werden müsste.
Behoben sind diese Defizite bis heute nicht. Dies kann nicht erstaunen, wenn man bedenkt, dass der Bund nur gerade rund 100 Millionen Franken pro Jahr direkt für den Schutz der Biodiversität im engen Sinne ausgibt, will heis­sen im Kredit Natur und Landschaft. Zwar kommen weitere Finanzströme wie z. B. Direktzahlungen für den ökologischen Ausgleich in der Landwirtschaft sowie kantonale Finanzen für die Biodiversität hinzu. Im Vergleich zur Gesamtsumme der biodiversitätsschädigenden Subventionen, welche die Wissenschaft auf 40 Milliarden Franken schätzt, sind das allerdings Brosamen. Auch im Vergleich zu anderen Politikbereichen sind die Ausgaben für die Biodiversität viel zu gering.

Es ist offensichtlich: Die offizielle Schweiz tut viel zu wenig für den Erhalt der Biodiversität und damit für die Sicherung der Ökosystemleistungen für Gesellschaft und Wirtschaft.

Mit der aktuellen Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes (NHG) besteht nun die Chance, im Bereich der Biodiversität endlich wieder einen wirksamen Schritt nach vorne zu machen. Bereits 2017 wollte Bundesrätin Doris Leuthard eine gezielte NHG-Revision aufgleisen, um insbesondere die Ökologische Infrastruktur expliziter im Gesetz abzustützen. Ausreichend grosse Lebensräume sind seit Langem im NHG verankert. Doch die gefährliche Trägheit der offiziellen Schweiz angesichts der heranrollenden Biodiversitätskrise stand einer konsequenten Umsetzung im Weg. Zehn Jahre nach Veröffentlichung der «Strategie Biodiversität Schweiz» durch den Bundesrat musste BirdLife in einer Analyse feststellen, dass es für die Biodiversität ein verlorenes Jahrzehnt war. Das muss sich ändern.

Mit der Biodiversitätsinitiative von BirdLife Schweiz, Pro Natura, Stiftung Landschaftsschutz und Schweizer Heimatschutz wurde die Türe aufgestossen, um die vom Bundesrat bereits in der Strategie Biodiversität Schweiz 2012 angekündigte NHG-Revision aufzunehmen.

Sowohl der Bundesrat als auch der Nationalrat haben den grossen Handlungsbedarf zum Erhalt der Biodiversität anerkannt und sich für einen indirekten Gegenvorschlag in Form einer NHG-Revision ausgesprochen. Die vom Nationalrat verabschiedete NHG-Revision enthält Substanz und geht in die richtige Richtung. Sie soll zudem mehr Mittel für die Biodiversität bewirken. Um der Biodiversitätskrise wirksam zu begegnen, sollte die Gesetzesrevision weiter verbessert werden. Der Ständerat zögert jedoch, ob er überhaupt auf die Vorlage eintreten will und hat diesen Entscheid auf Ende März vertagt. Gerade die Mitte-Partei wird massgeblich mitentscheiden, ob das Erbe von Doris Leuthard erhalten bleibt – und damit die Biodiversität als Lebensgrundlage zukünftiger Generationen!