Ständerats-Kommission verliert den Kompass

Position von BirdLife Schweiz – Oktober 2022

Bild
Für nur wenig mehr Strom die letzten Flüsse opfern? Sogar die bereits jetzt minimalen Restwassermengen stehen wieder zur Diskussion. Bild © Alamy

Die Biodiversität erbringt für die Menschen unzählige Ökosystemleistungen – seien es Schutz vor Erosion oder Hochwasser, Bestäubung, die Speicherung von grossen Mengen CO2 oder andere. Aber die Biodiversität erleidet eine schwere Krise, und wir wissen dies seit vielen Jahren. Es wäre also zu erwarten, dass verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker alles daran setzen, um die Biodiversität als unsere Lebensgrundlage zu erhalten. Doch weit gefehlt.

Es ist ein bekanntes Phänomen in der Psychologie, dass die kurzfristigen und aktuellen Probleme stärker beachtet werden als die eigentlich wichtigeren, langfristigen Herausforderungen. Derzeit erhält der Angriff auf die Ukraine berechtigterweise viel Aufmerksamkeit. Leider werden darob die Biodiversitäts- und die Klimakrise teils vergessen. Es werden gezielt Ängste vor einem Blackout geschürt, obwohl ein solcher in der Schweiz wenig wahrscheinlich ist. Und diese Ängste scheinen einige Interessensvertreter im Parlament ausnutzen zu wollen.

Die Angriffe auf das Naturschutzrecht im Parlament in Bern sind zahlreich. Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts, Abschaffung der Umweltverträglichkeitsprüfung für Photovoltaikanlagen in der freien Fläche oder Sistierung der Restwasserbestimmung sind nur einige Angriffe in letzter Zeit. Die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerats (UREK-S) schlug vor Kurzem gar vor, die Biotope von nationaler Bedeutung für Anlagen der erneuerbaren Energien zu öffnen. Zudem wollte sie gros­se Photovoltaikanlagen ohne Richtplanung und Umweltverträglichkeitsprüfung erlauben – und damit jegliche Interessenabwägung zugunsten der Biodiversität verunmöglichen. Ohne eine solche Planung kann es jedoch sein, dass Photovoltaikanlagen auf wertvollen
Lebensräumen zu stehen kommen – nur weil weniger problematische Standorte nicht geprüft wurden. BirdLife hat sich im Rahmen der Energieperspektive 2035 der Umweltallianz einmal mehr zukunftsorientiert und kompromissbereit gezeigt. Aus Sicht der Umwelt ist ganz wichtig, dass primär das grosse Potenzial für Photovoltaik auf bestehenden Bauten und Infrastrukturen genutzt wird. Soweit dieses nicht reicht, unterstützt BirdLife auch Photovoltaik auf bereits stark vorbelasteten Standorten wie z. B. schwimmend auf Stauseen in den Bergen, wo die Winterstromproduktion höher ist.

Der vorgeschlagene Kahlschlag des Naturschutzrechts brächte nur eine geringe zusätzliche Energieproduktion, jedoch gewaltige Schäden für die Biodiversität. Damit würde der Vorschlag der UREK-S die Biodiversitätskrise befeuern und nachfolgenden Generationen hohe Kosten aufbürden. Die Biodiversitätskrise ist für die Menschheit potenziell lebensbedrohlich. Das Verhalten der UREK-S ist somit aus umweltpolitischer Sicht völlig verantwortungslos. Es ist aber auch aus Sicht der Demokratie hoch problematisch.

Im Hinblick auf die Volksabstimmung zur Energiestrategie 2050 wurde bereits hart um einen Kompromiss gerungen. In Gebieten des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) ist seither eine Interessenabwägung gegenüber Erneuerbaren Energien möglich. Der Schutz dieser wertvollen Landschaften wurde also schon abgeschwächt. Im Gegenzug blieb der Schutz der Biotope von nationaler Bedeutung, also der wichtigsten Naturperlen der Schweiz, erhalten. Sie sind im Energiegesetz seither ausdrücklich als Ausschlussgebiete genannt. BirdLife erklärte sich mit diesem Kompromiss einverstanden und hat die Energiestrategie 2050 im Abstimmungskampf unterstützt, denn BirdLife nimmt die Klima- und die Biodiversitätskrise ernst.

Nun soll dieser demokratische Kompromiss bereits wieder über den Haufen geworfen werden. Und dies nicht in einer offenen Diskussion, sondern in einem intransparenten Schnellverfahren. Ohne Vernehmlassung, ohne breite Diskussion in den Medien. Das gleicht eher einem Hinterzimmerdeal der Mächtigen als einem verantwortungsvollen demokratischen Vorgehen.

Zu guter Letzt ist das Vorgehen auch rechtsstaatlich sehr fragwürdig. Grund­eigentümer und Gemeinde würden schier unbegrenzte Entscheidungsfreiheit erhalten. Die Bewilligung des Kantons würde zur Formsache degradiert, die bewährte Interessenabwägung würde umgangen. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig.

BirdLife Schweiz setzt sich weiterhin mit voller Kraft für die Biodiversität und die Umwelt ein – und ruft alle Akteure auf, Verantwortung zu übernehmen und die rechtsstaatlichen und demokratischen Spielregeln einzuhalten.