Verbandsbeschwerderecht: Der Unterschied zwischen Rechtsstaat und Bananenrepublik

Position von BirdLife Schweiz – Juni 2023

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Dank einer Verbandsbeschwerde hat BirdLife Schweiz vor Bundesgericht einen besseren Schutz für geschützte Tierarten wie Graureiher erwirkt. © Patrick Donini

Das Verbandsbeschwerderecht gibt der Natur eine Stimme: Naturschutzorganisationen können Behördenentscheide durch ein Gericht auf ihre gesetzliche Rechtmässigkeit überprüfen lassen. Es schränkt damit die Möglichkeiten für Behördenwillkür stark ein und erfüllt daher im Rechtsstaat eine zentrale Funktion. Diese ist auch der Stimmbevölkerung wichtig. Bei der letzten Abstimmung zum Verbandsbeschwerderecht bestätigte es mit wuchtigen zwei Dritteln aller Stimmen das Beschwerderecht.

In der Politik und bei Interessenvertretern hat das Verbandsbeschwerderecht jedoch einen schweren Stand. Gerade in der Politik wird es derzeit bei jeder Gelegenheit angegriffen: Zulassung von Pestiziden, Windkraft-Express, Parlamentarische Initiative Kamerzin und Parlamentarische Initiative Bregy sind die jüngsten Beispiele. Aber auch durch den «grundsätzlichen» Vorrang des Interesses an den erneuerbaren Energien vor allen anderen nationalen Interessen, der im sogenannten Solarexpress und im Mantelerlass verankert werden soll, wird das Verbandsbeschwerderecht erheblich eingeschränkt. Die Politik legt dadurch fest, dass eine bestimmte Kategorie von Projekten unabhängig von ihrer Grösse, ihrer Qualität oder anderen sachlichen Kriterien Vorrang vor allen anderen nationalen Interessen haben soll. Damit wird einer sauberen Prüfung durch Behörden oder Gerichte vorgegriffen.

Angriffe auf das Verbandsbeschwerderecht sind offenbar beliebt. Das liegt möglicherweise daran, dass die Beschwerden oft als Verzögerung oder als Machtkampf wahrgenommen werden. Auch in den Medien werden sie regelmässig so dargestellt. Die lange Dauer der Verfahren, die zu den Verzögerungen führt, ist jedoch nicht den Naturschutzorganisationen zuzuschreiben. Sie haben für die Beschwerdeerhebung oder allfällige Antworten jeweils kurze Fristen von 10 bis 30 Tagen einzuhalten. Vielmehr sind die Gerichte personell oft ungenügend aufgestellt. Das wiederum ist ein Faktor, den die Politik in der Hand hätte. Sie könnte die Gerichte mit dem notwendigen Personal ausstatten und die Fristen für die Behandlung der Rekurse stark verkürzen. Eine rasche Behandlung der Rechtsfälle wäre im Interesse aller. Auch geht es bei Beschwerden um eine nüchterne juristische Prüfung, nicht um Fragen der Macht. Nicht die Partei, die in den Medien lauter schreit und pointierter argumentiert, gewinnt Beschwerdefälle. Bei Rechtsfällen steht die sachliche Prüfung, ob das jeweilige Projekt die Gesetze respektiert, im Vordergrund. Und gesetzeskonforme Projekte sollten definitiv im Interesse aller sein.

 

«Es ist zu befürchten, dass die Behörden ohne das Korrektiv des Verbandsbeschwerderechts noch mehr gesetzeswidrige Projekte bewilligen würden.»

 

Im langjährigen Durchschnitt stellen die Gerichte bei drei Vierteln aller Fälle des Verbandsbeschwerderechts fest, dass die Projekte zumindest in Teilen gesetzeswidrig waren. Es gibt somit sehr viele Fälle, in denen Projekte verbessert, den geltenden Gesetzen angepasst oder in einigen Fällen gestoppt werden müssen. Die hohe Quote an Projekten mit Korrekturbedarf oder nicht-rechtmässigen Projekten zeigt zudem, dass die Naturschutzorganisationen das Verbandsbeschwerderecht zurückhaltend und verantwortungsvoll einsetzen. Es ist zu befürchten, dass die Behörden ohne dieses Korrektiv politisch noch viel stärker unter Druck kämen und noch mehr gesetzeswidrige Projekte bewilligen würden. Das Verbandsbeschwerderecht ist also ein sehr wichtiges Instrument, um sicherzustellen, dass keine oder möglichst wenige gesetzeswidrige Projekte durchgedrückt werden.

Wer gegen das Verbandsbeschwerderecht ankämpft, setzt sich letztlich – wahrscheinlich unwissentlich – dafür ein, dass mehr gesetzeswidrige Projekte realisiert werden. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein. Deshalb gilt es, die Angriffe auf das Verbandsbeschwerderecht entschieden zu stoppen!