Storch mit Plastik im Schnabel

Gummiring statt Wurm: Plastik als Nestlingsnahrung bei Störchen

Die Bilder von verendeten Albatrossen, deren Mägen mit Plastik gefüllt sind, schaffen es regelmässig in die Medien. Und so denken wir bei der Müllproblematik sofort an die immense Verschmutzung der Meere und deren gravierende Auswirkungen auf Seevögel, Meeresschildkröten oder Robben. In unserer sauberen Schweiz ist Abfall für Tiere ja wohl kein Problem. Wirklich nicht? Ein Blick in Storchenhorste zeigt ein anderes Bild.

Text: Lorenz Heer 

Dieser Text stammt aus der Zeitschrift Ornis, Ausgabe 2/21. Weitere Infos zu Ornis / Abo

In der Brutzeit 2018 machten zwei Storchenjunge traurige Schlagzeilen: Sie hatten sich mit ihren Beinen in Schnüren, Garnen und Kunststoffbändern verfangen, welche die Altvögel als Nistmaterial zum Nest gebracht hatten. Für den einen Nestling kam jede Hilfe zu spät. Ein weiterer Vorfall betraf einen Basler Jung­storch, der eine Nacht zur Beobachtung in menschlicher Obhut verbrachte, nachdem er bei Flugversuchen eine Bruchlandung hingelegt hatte. Dabei würgte er einen Riesenballen Gummibänder und Dichtungsringe aus. Und nahe Offenburg (D) wurde ein Storch, der im Aargauer Murimoos aufgewachsen war, völlig abgemagert und erschöpft aufgefunden. In seinem Magen befanden sich nebst vier Käferflügeln, einem Stück Netz und einer Glasscherbe insgesamt 471 g Dichtungsringe, Schnüre und Gummibänder.
 


Bild: Lorenz Heer

Was hier als Einzelfälle ans Licht kam, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das zeigen diverse Studien aus der Schweiz, Spanien oder Deutschland wie auch Beobachtungen beispielsweise in Kroatien und Israel. Meine eigenen Beobachtungen an rund 20 Horsten bestätigen, dass die Störche auch hierzulande ihren Jungen regel­mäs­­sig Plastik verfüttern.

Der Storch ist ein Generalist

In der Schweiz sammeln Altstörche für ihre Nestlinge natürlicherweise Regenwürmer, Schnecken, Insekten, ab und zu mal eine Maus. Als Gesundheitspolizist verschmäht der Weissstorch auch kein Aas und frisst tote Nagetiere, Fische, aber auch Essensreste. Mit seinem breiten Beutespektrum ist er ein Generalist, und wenn etwas in Grösse und Konsistenz seinem Beuteschema entspricht, so wird es gefressen. Und immer klarer zeigt sich: Der Weissstorch scheint dabei nicht zwischen einem Regenwurm und einem «Gummiwurm» unterscheiden zu können.

In ihrem Kropf tragen die Altstörche das (vermeintliche) Futter zum Nest und würgen es in die Mitte der Nestmulde. Die Jungstörche stürzen sich sofort auf das Herbeigebrachte und verschlucken schnell so viel wie möglich. Und wie auch meine eigenen Beobachtungen an den Horsten zeigen, wird fast alles heruntergeschlungen, was da im Horst liegt – auch Dichtungsringe, Gummibänder, Plastikfolien oder andere Kunststoffstücke.

Ein Teil des Abfalls wird in Form von Speiballen wieder ausgewürgt. Doch nicht aller Plastik oder Gummi findet den Weg zurück nach draus­sen, ein Teil verbleibt im Magen. Dies zeigte eine Studie an Störchen in Spanien, wo diese häufig auf Mülldeponien nach Nahrung suchen. Untersuchte Mägen von Störchen lieferten ein erschütterndes Ergebnis: 63% der Vögel im ersten Lebensjahr und 35% der Altstörche hatten Plastik im Magen.

Mit vollem Magen verhungern

In der Schweiz sehen die Resultate ähnlich aus. Jürg Völlm stellte die Obduktionsergebnisse von Störchen zusammen, die in der Schweiz zwischen 1966 und 2002 tot aufgefunden worden waren. Hier ist Plastik vor allem ein Problem bei Nestlingen: 37% hatten Fremdkörper im Kropf oder Magen, im Vergleich dazu nur 3% der Altstörche.

Trotz geordneter Abfallentsorgung landet auch bei uns in Mitteleuropa haufenweise Abfall in der Landschaft. Ein Artikel in der deutschen Zeitschrift «Der Falke» deckte auf, dass viel Plastik auch auf Gemüsefeldern zu finden ist: «Beispielsweise bleiben bei der Radieschen-Ernte oft die Gummiringe auf den Feldern zurück. Sei es, dass sie bei der Ernte vergessen werden oder aber die unverkäuflichen Radieschen- oder Zwiebelbündel zurück auf das Feld gefahren und dort einfach samt Gummiringen abgelagert werden.»
  


Dieser Jungstorch musste eingeschläfert werden – er hatte wochenlang nicht genug gefressen, weil sein Magen voller Plastik war.. Bild: Ingrid Dörner
  

Auch sonst ist Littering ein Problem. Die Aare bei der Storchenkolonie in Altreu beispielsweise ist ein beliebter Ausflugsort. Gerne werden in der Natur Partys gefeiert, weniger schön ist, was zurückbleibt. Informationskampagnen mit Plakaten und das Aufstellen grosser Mülltonnen zeigen zwar Wirkung, dennoch wird nicht jeder Abfall in den Eimern entsorgt. Und wenn sich dann noch Wind einstellt, landen Folien, Kartons, Plastiksäcke und andere Verpackungen in der Kulturlandschaft – und vielleicht im Magen eines Jungstorches.

Je nach Plastikmenge können Störche bisweilen ohne ersichtliche körperliche Einbussen mit Fremdkörpern im Magen leben. Ist es viel, so führt das zu Abmagerung bis hin zum Tod. Wie Bilder zeigen, kann der Magen dermassen mit Gummibändern überfüllt sein, dass der Storch schliesslich «mit vollem Magen» verhungert. Auch können Plastikteile zu Darmverschluss führen. Man fand auch spitze Kunststoffteile, welche die Magenwand durchstossen hatten.
  

Mageninhalt des nahe Offenburg aufgegriffenen Storches. Völlig abgemagert trug er in seinem Magen 471 g Schnüre, Garne und Gummiringe. Bild: Paulette Gavron
 

Bestände wachsen an

Der Weissstorch profitiert auf dem Zug und in seinen Winterquartieren in Spanien und Marokko von offenen Müllhalden. Dies wird sogar als Treiber der sich positiv entwickelnden Bestände in Westeuropa angesehen. Somit scheint die einfache Erreichbarkeit von Nahrung in Form von Essensresten die negativen Seiten des Mülls zu überwiegen. In der Schweiz haben wir keine offenen Kehrichtdeponien mehr, dennoch landet noch zu viel unseres Wohlstandes in der Natur.

Und wenn dann Schnüre, Gummibänder oder Verpackungen in der Natur einfach weggeworfen werden, so leidet nicht nur das Auge. Der Müll kann für viele Tiere lebensbedrohlich werden. Der Weissstorch profitiert in vielerlei Hinsicht von uns Menschen, ist aber durch unseren sorglosen Umgang mit Abfall auch ein Opfer der Wegwerfgesellschaft. Auch bei uns in der Schweiz.

Dr. Lorenz Heer ist Biologe und engagiert sich u.a. im Verein «Für üsi Witi». Aufgewachsen in der Nähe von Altreu, kennt er den Storch seit seiner Kindheit. Er untersucht Aspekte zu Ökologie und Verhalten und verfolgt die Plastikproblematik. Unter Storch Schweiz wurde eine Projektgruppe ins Leben gerufen, die sich europaweit der Plastikproblematik annimmt.
 

Mit vollem Kropf kehrt ein Altvogel im Raum Basel zu seinem Nest zurück. Doch als Futter bringt er nur Gummiringe. Die Jungen verschlingen diese, als wären es Regenwürmer. Bild: Lorenz Heer
 

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